Von 2008 bis 2013 hat das Archäologische Institut der Universität Göttingen im Hinterland von Agrigent (Sizilien), zwischen Akragas und Panormos, einen archäologischen Feld-Survey auf 274 qkm von den tiefen Lagen des Platanitals (30 m üNN) bis zu den Gipfeln der Monti Sicani (1500 m üNN) durchgeführt. Dabei wurden neben dem Archäologischen Survey (Feldbegehungen) und mehr als 1000 km Fußmärschen auch geophysikalische Untersuchungen auf ausgewählten Fundplätzen (Geomagnetik und Georadar) durchgeführt, ebenso wie Bohrungen zur Analyse der Bodenarten und des Naturraums und Luftbilder mit einem Ultraleichtflugzeug.
Dadurch wurde die archäologische Karte Siziliens in einem bisher nahezu unbekannt gebliebenen Gebiet mit mehr als 150 neuen Fundstellen zwischen dem Neolithikum und der frühen Neuzeit gefüllt. Dadurch ist ein systematisches Bild der Siedlungsstrukturen in Zentralsizilien entstanden, das nun erstmals umfassend publiziert wurde. Frühere Projekte hatten sich meist auf die Territorien der griechischen Städte an den Küsten konzentriert. Hier wurde nun erstmals ein indigenes Siedlungsgebiet der einheimischen Bevölkerung untersucht und zugleich den Folgen der griechischen Städtegründungen ebenso wie der Gründung der ersten römischen Provinz auf die indigenen Siedlungsgebiete Zentralsiziliens nachgegangen. Vergleichbare Untersuchungen in Zentralsizilien mit umfassenden qualitativen und statistischen Daten gibt es bisher nicht. Daher können die Ergebnisse des Agrigent-Hinterland-Survey als neuartig und grundlegend für die weitere Forschung angesehen werden.
Hinzu kommt, daß unsere eigenen Forschungen im Territorium der griechischen Stadt Gela (J. Bergemann, Der Gela-Survey, 3 Bde. [München 2010]) und jüngste Untersuchungen im Territorium von Kamarina, die im Kern mit derselben Methodik durchgeführt wurden, zum direkten Vergleich herangezogen werden können. Dadurch wurde es möglich, griechische und indigene Siedlungsgebiete systematisch miteinander zu vergleichen.
Auf diese Weise ist ein kulturelles, ökonomisches und siedlungsgeschichtliches Bild der Monti Sicani im weiten Hinterland der griechischen Stadt Akragas (Agrigent) entstanden. Das Siedlungssystem hatte hier eine andere Geschichte und zugleich eine völlig andere Struktur, als im unmittelbaren Umfeld der griechischen Städte. Verglichen mit dem Umland von Gela war der historische Ablauf sogar vollkommen gegensätzlich. Während in Gela die frühe Bronzezeit ein dichtes Siedlungsbild erkennen läßt, trifft dies in den Monti Sicani, obwohl eine differenzierte Entwicklung seit der frühen Kupferzeit verfolgt werden kann, viel mehr auf die vorgriechische Eisenzeit zu, während die Siedlungsintensität mit der Ankunft der Griechen an den Küsten im Binnenland nachläßt. Anders als im Umland von Gela dominieren weiter die indigenen Höhensiedlungen, während die griechische Form der Landschaftserschließung durch Einzelgehöfte nur in sehr geringer Dichte Platz greift. Das führt dazu, daß die demographische Entwicklung wesentlich weniger dynamisch abgelaufen sein muß als im Umfeld der griechischen Polis Gela.
Die wenigen Gehöfte nach griechischem Typ in den Monti Sicani verteilen sich entlang des historischen Straßensystems, das aufgrund der frühneuzeitlichen Reggie Trazzere, königliche Verbindungsstraßen, und der daran liegenden historischen Siedlungsplätze fast flächendeckend rekonstruiert werden kann. Seit der Prähistorie wird auf diese Weise der enge Zusammenhang zwischen Siedlungs- und Wegesystem deutlich.
Außerdem hat es der Survey im Hinterland von Agrigent möglich gemacht, generelle Unterschiede zwischen den griechischen Städteterritorien (Chora) und dem indigenen Hinterland (Eschatia) zu beschreiben. Kulturelle Kenndaten der Eschatia sind ein deutlich niedrigeres Vorkommen von griechischer Feinkeramik und griechischen Dachziegel aus Ton. Überdies war das griechische Symposiongeschirr in den indigenen Bereichen weit seltener vorhanden als in den Küstenzonen. Das paßt zu den paläobiologischen Beobachtungen, aus denen sich das Fehlen des Weinanbaus in Zentralsizilien bis zum Beginn der Neuzeit ablesen läßt. Offenbar lag zwischen den Küsten und dem Binnenland eine kulturelle Grenze. Dennoch wird das Gebiet zu einer Kontaktzone zwischen Griechen und Einheimischen. Neben einer gemischten Landwirtschaft bilden das Salz der salzführenden Flüsse und der teils obertägig abbaubare Schwefel die ökonomischen Ressourcen des Landes.
Im Hellenismus, als bereits im 3. Jh. v. Chr. die Römer nach Sizilien kommen, führt neben einem generellen Rückgang der ländlichen Siedlungsdichte zu einer Konzentration der Landwirtschaft und einer Veränderung ihrer Techniken. Seit der frührömischen Zeit lassen sich große landwirtschaftliche Einrichtungen, vor allem Speicherbauten feststellen. Sie wurden an mehreren Fundstellen aufgrund der archäologischen Survey-Ergebnisse auch durch geophysikalische Untersuchungen bestätigt, und es wird klar, daß ein Horreum selbstverständlicher Teil einer römischen Villa rustica war. Insgesamt kann die Strukturveränderung von kleinen Gehöften zu größeren landwirtschaftlichen Einrichtungen mit der weiterhin dynamischen Entwicklung der Stadt Akragas an der Küste in Verbindung gebracht werden.
Auch die römische Kaiserzeit und die Spätantike lassen in den Monti Sicani wie auch sonst in Sizilien ein florierendes Siedlungssystem erkennen. Während sich die Krise des 3. Jh. n. Chr. in Zentralsizilien weniger als an den Küsten manifestiert, kommt es im 4. und 5. Jh. n. Chr. zu einer starken Intensifivierung der ländlichen Siedlungsformen, die mit der Auflassung mehrerer Städte an der Südküste einhergeht (Selinunt, Herakleia Minoa, Phintias, Gela, Kamarina). Daher bilden nun Villen und ländliche Großsiedlungen (vici) gemeinsam mit kleinen Landungsplätzen an den Küsten die fokalen Punkte des Siedlungssystems. Große landwirtschaftliche Einrichtungen, die sich bei Villen und vici feststellen lassen, zeigen eine weitere Spezialisierung der Landwirtschaft und eine Fortentwicklung von der Subsistenz- zur Erwerbswirtschaft.
Das Siedlungssystem entwickelt sich in engem Zusammenhang mit den natürlichen Ressourcen. Hier spielt vor allem das Vorhandensein von Wasser eine zentrale Rolle ebenso wie die mineralischen Ressourcen, Salz und Schwefel.
Das Mittelalter bringt nach der arabisch-normannischen Zeit – im Hochtal von Altavilla konnte der Rest eines königlichen Casale mit einem skulpierten Portals festgestellt werden – eine neue sehr intensive Siedlungstätigkeit im Zuge der staufischen Herrschaft mit sich, die diejenige im Gebiet von Gela noch übertrifft. Aus der Spätantike reicht schließlich ein gebautes Oktogon im wasserreichen Magazzolobecken in die Staufer- und Neuzeit hinein.
Damit kann eine großflächige und schmerzhafte Lücke der Archäologie Siziliens im Hinterland von Agrigent nicht nur geschlossen werden, sondern auch eine systematische und fortlaufende Interpretation des Siedlungssystems und seiner Veränderungen, der Ökonomie, Kultur und des Mensch-Umweltsystems seit der Prähistorie über die Griechen- und Römerzeit bis zum Mittelalter vorgelegt werden, deren Ansätze und Beobachtungen für andere Gebiete auf Sizilien und im Mittelmeerraum insgesamt zum Vergleich und für weitere Forschungen als Anregung dienen kann.
Schließlich gibt die Publikation den lokalen Behörden der Bodendenkmalpflege ein Instrument an die Hand für den Schutz der oft durch moderne Maßnahmen gefährdeten Fundstellen.
Die Publikation ist im Dezember 2020 in der Reihe der Göttinger Studien zur Mediterranen Archäologie Bd. 11 im Verlag Marie Leidorf (Rahden/Westf.) erscheinen. Zwei Bände mit 642 Druckseiten, dazu 262 überwiegend farbige Tafeln, 10 Karten und einem Faltplan dokumentieren mehr als 150 Fundplätze, Keramikkonzentrationen ebenso wie Felsgräber, Gebäudegrundrisse, Schwefelvorkommen und Einrichtungen zur Ölproduktion, dazu eine gezielte Auswahl diagnostischer Fundobjekte, vor allem Keramik.
Die Gerda-Henkel-Stiftung hat die Forschungen in Sizilien von 2009 bis 2013 gefördert und die Publikation durch einen bedeutenden Zuschuß möglich gemacht.