Auch ich beschloss im Sommer 1990, für eine gewisse Zeit in einer Stadt im Osten Deutschlands zu wohnen und zu erforschen, wie die Bewohnerinnen und Bewohner diese Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs biografisch verarbeiten. Wie würde sich das Zusammenleben in dieser Stadt verändern, wie sah das damalige Lebensgefühl aus? Da ich zu dieser Zeit keiner Institution angehörte, entwarf ich im Mai 1990 ein Exposé für mein Vorhaben und präsentierte es dem damaligen Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Jan Philipp Reemtsma. Er ermunterte mich, sofort mit der Arbeit zu beginnen und finanzierte mir einen zweijährigen Forschungsaufenthalt. So machte ich mich im August 1990 mit meinem Auto auf den Weg, um nach einer geeigneten Stadt zu suchen. Neben einem Laptop und einem Tonbandgerät nahm ich auch einen meiner Fotoapparate, eine Spiegelreflexkamera Canon A1, mit. Fotografische Orientierungen gaben mir damals die Bücher von John Berger und Jean Mohr, die in ihren Reportagen über Arbeitsmigranten oder das bäuerliche Leben von „Einer anderen Art zu erzählen“ sprachen und damit Fotosequenzen meinten, die weder Illustrationen waren, noch erklärende Worte brauchten. Mir schwebte eine Art von dokumentarischer Sozialfotografie vor, die sich - weit weg von den Sehenswürdigkeiten eines Ortes – im Sinne einer unspektakulären Bestandsaufnahme den Menschen im städtischen Raum und den Veränderungen durch die Deutsche Einheit widmen wollte. Die Fotografien sollten festhalten, wie sehr wirtschaftliche und soziale Bedingungen in der DDR auch das äußere Erscheinungsbild einer Gemeinde geprägt haben und welche Veränderungen erfolgten. Auch viele Bilder von DDR-Fotografen hatte ich im Kopf: Helga Paris mit ihren beeindruckenden Portraits und Stadtansichten aus Halle (“Diva in Grau“) oder das Fotobuch von Einar Schleef, der unter dem Titel „Zuhause“ sein Heimatdorf Sangerhausen in Thüringen portraitiert hatte. Beeinflusst hat mich auch eine Serie von Fotobüchern in zwölf Folgen, entwickelt von dem Gestalter Otl Aicher. Fotografen wie z.B. Dirk Reinartz oder Tim Rautert schufen in diesen Bänden kein auf Hochglanz poliertes Bild der Bundesrepublik, sondern Ausschnitte aus der Wirklichkeit in Kombination mit individuellen Aussagen. Unter dem Titel "Eine Kleinstadt, z.B. Buxtehude", fotografierte Dirk Reinartz z.B. eine kleine, völlig unspektakuläre Stadt mit ihren Einwohnern, über die man ansonsten allenfalls etwas sieht oder hört, wenn sich dort etwas Spektakuläres ereignet.
Für die Suche nach einer geeigneten Stadt hatte ich vorab einige Kriterien festgelegt: Der Untersuchungsort sollte einerseits nicht zu nahe an den Grenzen zur Bundesrepublik oder zu Berlin (West) liegen, mir andererseits aber noch das gelegentliche Pendeln zwischen der ausgewählten Stadt und meinem Wohnort möglich machen. Die Einwohnerzahl sollte sich zwischen 18.000 und 21.000 bewegen. Außerdem sollte es sich um eine Kreisstadt handeln. Wirtschaftlich gesehen kamen keine Monokulturen in Betracht (rein agrarische Bezirke wie man sie z.B. in Mecklenburg-Vorpommern findet oder Monostrukturen wie z.B. Eisenhüttenstadt mit seiner Stahlindustrie bzw. die vielen Gebiete, die ausschließlich auf Abbau von Braunkohle ausgerichtet sind), sondern möglichst solche Orte, die vielfältige Industriestrukturen aufwiesen. Schließlich wollte ich die Untersuchung nicht in einer der vielen "auf dem Reißbrett" entstandenen reinen Neubaustädte durchführen, die nicht historisch gewachsen waren, z.B. Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda, Schwedt.
Am Ende der Reise hatte ich viele Kreisstädte gesehen, mit vielen Menschen auf der Straße, in Geschäften oder Gaststätten über ihren Wohnort gesprochen und einige Orte ausgesucht, die infrage kamen. Meine Wahl fiel schließlich auf die Stadt Wurzen, die rund 30 Kilometer östlich von Leipzig auf halbem Weg nach Dresden an der Mulde liegt. Mit ihrer Mischung aus vielfältigen, vor allem mittelständischen Industrien und einem hohen Anteil an landwirtschaftlicher Produktion entsprach Wurzen damals, so eine Regionalanalyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, einem Regionstyp, der für Gemeinden entsprechender Größe in der DDR typisch war.