Die moderne Pädagogik ist ein Kind der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Damals wurden bis heute gültige Ideale wie Mündigkeit und Autonomie formuliert. Die Erziehung sollte helfen, die Menschen von tradierten Zwängen zu befreien und zu einer selbstständigen Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse befähigen. Allerdings: Die Befreiung des Menschen durch Erziehung wurde immer auch als Befreiung von den Zwängen der Natur, der des physischen Körpers wie der der natürlichen Umwelt verstanden. Angesichts der ökologischen Krise lohnt es, die Pädagogik der Aufklärung neu und kritisch zu überdenken.
"Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht."[1] Gleich in der Einleitung zu seiner Vorlesung "Über Pädagogik" formulierte der Königsberger Philosoph Immanuel Kant einen Grundsatz der Pädagogik seiner Zeit, deren Bedeutung sich erst dann recht erschließt, wenn man den Satz umkehrt: Wer nicht erzogen wurde, ist überhaupt kein Mensch! Zwar besitze jedes Kind bei Geburt "Anlagen" zur Menschwerdung, so Kant, insbesondere zu einem moralischen Bewusstsein, diese blieben aber ohne Erziehung in der tierischen Natur des Menschen verborgen. Deutlicher formuliert: Ohne Erziehung ist der Mensch ein Tier, gefangen in seiner materiellen Umwelt und bestimmt allein von tierischen Bedürfnissen und Trieben.
Wie schrecklich es sein musste, wenn Kinder ohne Erziehung aufwuchsen, wurde im 18. Jahrhundert der bürgerlichen Öffentlichkeit immer wieder in Berichten über die "Wolfskinder" vorgeführt. Als Kleinkinder von ihren Eltern, oft aus blanker Existenznot, ausgesetzt, wurden sie Jahre später in abgelegenen Wäldern aufgegriffen. Aufgewachsen ohne soziale Kontakte und ohne jede Erziehung fand man sie wild und verwahrlost, in den Augen der Zeitgenossen kaum von Tieren zu unterscheiden. Der berühmteste Fall war der sogenannte "Wilde von Aveyron", ein etwa zehnjähriger Junge, der sich auf allen Vieren bewegte, gegenüber Menschen aggressiv reagierte, keine Sprache verstand und von Früchten und Tieren lebte, die er fing.[2] Daraus konnte man nur den einen Schluss ziehen: Allein durch die Erziehung, so Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft", gelinge "die Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden, wodurch wir an gewisse Naturdinge geheftet"[3] seien. Das Kind, so heißt es bei Peter Villaume, einem anderen Pädagogen der Aufklärung, sei ohne Erziehung nichts als eine "kraftlose, unausgebildete Masse", das von seinen tierischen Kräften bestimmt werde.[4]
Hinter dieser pädagogischen Gegenüberstellung von einer tierischen Natur und dem wahren Menschsein kommt ein für die ganze Aufklärung bestimmender Gegensatz von Vernunft und Natur, von Freiheit und Notwendigkeit, zum Ausdruck. Demnach war die physische Natur zwar vernünftig in dem Sinne, dass ihre Prozesse mechanischen und mathematisch berechenbaren Gesetzmäßigkeiten unterworfen waren, aber nur der Mensch besaß eine Vernunft, durch die er frei handeln, sich moralisch entwickeln und die gesellschaftlichen Verhältnisse nach seinen Vorstellungen gestalten konnte. "Die Natur als solche" schrieb Johann Gottlieb Fichte, "ist durch den Gegensatz mit der Freiheit charakterisiert."[5]
Diese menschliche Freiheit blieb nach dieser Vorstellung so immer bedroht durch Macht der physischen Natur. Zunächst durch die natürliche Umwelt, durch schwankende Klimaverhältnisse etwa, aber auch durch Naturkatastrophen wie Sturmfluten und Erdbeben, die jederzeit ganze menschliche Gesellschaften zerstören konnten.[6] Aber auch der "tierische" Körper mit seinen Bedürfnissen und Trieben beschränkte die freie Entfaltung der menschlichen Vernunft. Aufklärung als Fortschritt zur Selbstständigkeit war so nur möglich, wenn es gelang, diese Abhängigkeit von der Natur zu überwinden und den menschlichen Körper ebenso wie die natürliche Umwelt dem Willen der menschlichen Vernunft zu unterwerfen. Die Forderung nach Autonomie des Menschen war so nicht nur gegen kirchliche und staatliche Obrigkeiten, sondern immer auch gegen die physische Natur gerichtet.[7]
Deutlich wird das im aufklärerischen Narrativ vom Ausgang der Menschheit aus dem "Naturzustand", das gerade von Pädagog:innen immer wieder vorgebracht wurde. Der "status naturalis" beschrieb demnach nicht nur einen vorgesellschaftlichen Zustand, in dem die Menschen ohne staatliche Ordnung lebten, sondern vor allem einen, in dem die Menschen selbst bloß als eine Art Naturwesen existierten, in enger Verbindung mit der äußeren Natur und gesteuert allein von ihren tierischen Trieben. Der Mensch im Naturzustand, so der Schweizer Historiker Isaak Iselin, würde sich von "Baumfrüchten ernähren" und keine andere Gesellschaft verlangen als in so fern es die flüchtige Vergnügung eines unbestimmten Triebes zur Fortpflanzung der Art erheischet".[8] Selbst Jean-Jacques Rousseau, der in seinem "Discours über die Ungleichheit unter den Menschen" von der Bedürfnislosigkeit der Menschen in dem Naturzustand und von ihrer Empathie schwärmte, sah im Menschen im Naturzustand vor allem "ein Tier, (...) wie es am erstbesten Bach seinen Durst löscht, wie es sein Bett am Fuße desselben Baumes findet, der ihm sein Mahl geliefert hat, und damit sind seine Bedürfnisse befriedigt.“[9]
Der zivilisatorische Zustand, der als Telos der menschlichen Gesellschaft dem Naturzustand gegenüber gestellt wurde, war nicht nur einer, in dem die Menschen nach Gesetzen leben und ihre tierischen Triebe kontrollieren, sondern auch einer, indem sie die äußere Natur völlig unterwarfen. "Man hat die unermeßlichen Wälder niedergehauen", begeisterte sich der Pädagoge Peter Villaume, den Flüssen "ein freyes Bett" gegraben, die "Sümpfe trockengelegt" und sogar die "wilden Tiere in die Flucht" gejagt. "Dieses gereinigte Land", so Villaume weiter, "ist die Wohnung des Menschen und die Quelle seines Reichthums". Denn "ohne die Arbeit des Menschen würde die Erde nichts als unnützes Gras tragen."[10]
Aus diesem Kontext erklärt sich die zentrale Stellung der Pädagogik: Nur durch eine planmäßige Erziehung konnten die Menschen aus dem individuellen und kollektivem Naturzustand herausgeführt werden. Die Zahl der pädagogischen Handbücher und Ratgeber, die im 18. Jahrhundert dazu publiziert wurden, ist ebenso unüberschaubar wie die der philosophischen Abhandlungen, die sich mit den Grundlagen der Erziehung befassen. Ein gutes Beispiel dafür ist der zu einem Klassiker der Erziehungsliteratur gewordene Erziehungsroman "Émile" von Jean-Jacques Rousseau. Verschränkt in einer Romanerzählung, die den Erziehungsweg des Educanden Émile bis zu seiner Selbstständigkeit verfolgt, werden hier die anthropologischen Grundlagen der Erziehung besprochen und gleichzeitig zahlreiche praktische Ratschläge für die richtige Erziehung gegeben. Und Rousseau zeigte vor allem eines: wie der Zögling Èmile aus dem "Stande der Natur" zu einer freihandelnden, autonomen Persönlichkeit wird, die in der Lage ist, in der Gesellschaft zu bestehen und zu deren Fortschritt beitragen kann.
Während Rousseau der Ansicht war, der Erzieher müsse seinem Zögling möglichst viel Freiraum lassen, setzten die meisten Pädagog:innen der Aufklärung auf Disziplinierung, das heißt auf Unterwerfung der tierischen Triebe. "Disciplin verhütet, daß der Mensch nicht durch seine thierischen Antriebe von seiner Bestimmung, der Menschheit, abweiche", so Kant: "Disciplin unterwirft den Menschen den Gesetzen der Menschheit und fängt an, ihn den Zwang der Gesetze fühlen zu lassen." Und auch die Institution der Schule – im 18. Jahrhundert begann man in Europa die Schulpflicht einzuführen – hatte nicht primär die Funktion, Wissen zu vermitteln, sondern die, Kinder zu disziplinieren. Man schicke Kinder, so Kant, anfangs in die Schule, "nicht schon in der Absicht, damit sie dort etwas lernen sollen, sondern damit sie sich daran gewöhnen mögen, still zu sitzen und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird."[11] Diese äußere Disziplin, so die Idee, sollte sich schließlich in die Selbstdisziplin, seinen physischen Körper zu beherrschen, verwandeln. "Der freie menschliche Wille, mich durch eigenes Streben von dem Irrtum und dem Unrecht meiner tierischen Natur los zu machen", heißt es bei Pestalozzi, "ist also für den Menschen die einzige Quelle seiner wirklichen Wahrheit und seines wirklichen Rechts."[12]
Ende des 18. Jahrhunderts gab es zahlreiche pädagogische Projekte, die diese Unterwerfung der Natur sich zum Ziel setzten. In Dessau wurde 1774 vom Theologen und Pädagogen Johann Bernhard Basedow das Philanthropinum, eine Schule der Menschenfreunde, wie er es selbst nannte, gegründet. 1784 gründete im abgelegenen thüringischen Schnepfenthal der evangelische Pfarrer und Lehrer Christian Gotthilf Salzmann eine Erziehungsanstalt, 1799 übernahm der Theologe Johann Heinrich Pestalozzi im schweizerischen Stans die Einrichtung einer Erziehungsanstalt für Waisen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Die meisten dieser Projekte wurden weitab von den Metropolen, oft genug in abgelegenen Landschaften, angesiedelt. Dabei ging es aber keineswegs um eine Zuwendung zur Natur. Worum es wirklich ging, war die Schaffung einer kontrollierten Umgebung, in der die pädagogische Theorie frei von störenden Einflüssen realisiert werden konnte.[13] Hier sollten die Kinder lernen, ihren Körper zu disziplinieren und praktisch erfahren, wie die äußere Natur der menschlichen Vernunft unterworfen werden konnte. Wanderungen in der freien Natur und körperliche Betätigung spielten zwar eine wichtige Rolle im Tagesablauf, aber sie sollten keineswegs die Empathie mit der Natur fördern. Sie sollten vor allem, wie etwa Basedow ausführte, den Kindern helfen durch Anstrengung und durch das Ertragen von Kälte, ihren Körper zu beherrschen und nicht einfach sinnlichen Trieben nachzugehen. Der Mensch sei, so Salzmann, ein "vortrefflliches Geschöpf", weil er "beynahe die ganze Natur in seiner Gewalt habe. Durch seinen Fleiß verwandele er eine unfruchtbare Gegend in einen Garten, (...) zwinge den unfruchtbaren Stamm, schmackhafte Birnen und Äpfel zu tragen, und nöthige das Wasser berg auf zu steigen."[14] Genau dies sollte den Zöglingen auf den Wanderungen bewusst gemacht werden.
Betrachtet man aus der Perspektive der aktuellen ökologischen Krise die Pädagogik der Aufklärung, dann fällt die Bilanz kritisch aus. So groß die Verdienste der Denker:innen des 18. Jahrhunderts waren, eine Pädagogik zu konzipieren, die die Kinder in ihrer Besonderheit anerkannte und auf Freiheit und Mündigkeit setzte – ihre Distanz zur Natur kann heute kein Modell mehr sein. Es wird also darauf ankommen, die Errungenschaften der aufklärerischen Pädagogik ins 21. Jahrhundert zu retten, ohne ihre Defizite zu übersehen. Mündigkeit und Freiheit werden sich, soviel scheint klar, nicht gegen, sondern nur mit der Natur verwirklichen lassen.