Seit Anfang des Jahrzehnts sind nur noch weniger als die Hälfte der Deutschen Mitglied der römisch-katholischen oder der evangelischen Kirche. Kirchenaustritte und sinkende Zahlen von Gottesdienstbesuchen führen dazu, dass christliches Gemeindeleben in immer mehr Pfarrkirchen zum Erliegen kommt. Was aber bedeutet das für die vielen stadtbildprägenden Kirchenbauten, von denen viele gerade einmal 60 oder 70 Jahre alt sind? Vielerorts stellt sich die Alternative: Abriss oder Umnutzung, zum Beispiel als Bürogebäude, Kita oder sogar Fahrradgeschäft. Die Kunst- und Architekturhistorikerin Dr. Hanna Weber hat in ihrem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Dissertationsprojekt die Umnutzungen von Kirchen der Nachkriegszeit untersucht. Im Interview spricht sie über die architektonischen, denkmalschützerischen und sozialen Auswirkungen, die mit dem Prozess einer Kirchenumnutzung verbunden sind.
„Der Einfall des Lichts und die Raumausrichtung spielen eine zentrale Rolle“
L.I.S.A.: Frau Dr. Weber, im Rahmen Ihres Dissertationsprojektes haben Sie die Umnutzung von Kirchen der Nachkriegsmoderne in Deutschland anhand von fünf ausgewählten Beispielen aus den letzten 20 Jahren untersucht. Wie sind Sie zu Ihrem Thema gekommen? Und welche Überlegungen haben zu Ihrem Fokus auf die Kirchen der 1950er und 1960er Jahre geführt?
Dr. Hanna Weber: Bereits in meiner Abschlussarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin habe ich mich mit einem der untersuchten Gebäude beschäftigt, nämlich der durch Brandlhuber+ Emde, Burlon zur König Galerie umgestalteten Kirche St. Agnes in Berlin-Kreuzberg. Mich hat damals die Frage umgetrieben, durch welche baulichen Eingriffe aus einem Sakralbau ein Profanbau werden kann und welche Befindlichkeiten dabei bei Akteurinnen und Akteuren aus dem Umfeld aufkommen. Natürlich ging es auch um Überschneidungen von Raumauffassungen. Inwiefern ähnelt ein Ausstellungsraum einem Kirchenraum? Gibt es als heilig angesehene Zonen, die sich noch auf die profane Nutzung als Kunstort auswirken? Ein Ergebnis war, dass der durch die Architektur vermittelte Einfall des natürlichen Lichts und die Raumausrichtung eine zentrale Rolle spielen. Gemein haben Kirchen- und Ausstellungsräume die Geschlossenheit ihrer Wände, um sich von der Außenwelt abzukoppeln und die Kontemplation anzuregen.
Die Kirchenbauten der 1960er Jahre stehen deshalb im Fokus, weil sie zu einer Gruppe von Gebäuden zählen, die rascher für den Verkauf und eine darauf folgende Umnutzung bestimmt werden, als Bauten älterer Epochen. Viele dieser Kirchen waren schon von Baubeginn an unbeliebt bei ihren Gemeinden. Dazu kommt, dass sich die Kirchen der Nachkriegsmoderne besonders für Umbauten eignen, da sie sogenannte „Einräume“ bergen, also recht einheitlich gestaltete, große Hallen, die meistens ohne Pfeiler oder Säulen auskommen.