Menschen mit Behinderung als Opfer nationalsozialistischer Gewaltpolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion waren in der Forschung lange ein Randthema. Erst die Öffnung postsowjetischer Archive ermöglichte einen neuen Blick auf eine über Jahrzehnte hinweg verschwiegene bzw. vergessene Opfergeschichte. In einem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Projekt haben Forscher aus Weißrussland, der Ukraine, Russland und Deutschland untersucht, wie Menschen mit Behinderung in der UdSSR vor dem Zweiten Weltkrieg diskriminiert wurden, wie die Nationalsozialisten sie in den besetzten Gebieten der Sowjetunion vernichtet haben und warum diese Opfergruppe nach 1945 in Vergessenheit geriet. Die Ergebnisse der Forschergruppe haben die Neuzeithistoriker Prof. Dr. Rainer Hudemann und Dr. Alexander Friedman von der Universität des Saarlandes in einem aktuellen Sammelband herausgegeben. Wir haben Rainer Hudemann um ein Interview gebeten.
"Problembewusstsein für Behinderte in modernen Kriegen schärfen"
L.I.S.A.: Herr Professor Hudemann, Sie haben zusammen mit Dr. Alexander Friedman ein umfangreich angelegtes weißrussisch-deutsches Projekt geleitet, in dem es um Behinderte in der Sowjetunion, unter nationalsozialistischer Besatzungszeit und im Ostblock von 1917-1991 ging. Greifbares Ergebnis des Projekts ist ein gerade erschienener Ergebnisband mit dem Titel "Diskriminiert - vernichtet - vergessen". Bevor wir zu einigen zentralen Aspekten der zugrundeliegenden Forschungsarbeit kommen - wieso dieses Thema? Was waren die Vorüberlegungen zu diesem Projekt? Was macht es so erforderlich?
Prof. Hudemann: „Euthanasie“ und Massenmorde sind in Deutschland seit der frühen Nachkriegszeit ein sehr breit erforschtes Thema. Dass Morde an psychisch und physisch Behinderten auch im Rahmen des Ost-Feldzuges erfolgten, war mit Ausnahme weniger Arbeiten zu Polen bisher fast unbekannt. Dem entsprach eine Randstellung von Behinderten in der Sowjetunion und den post-sowjetischen Staaten. Insofern hofft die Projektgruppe, mit ihrer Arbeit zugleich allgemeiner das Problembewusstsein für Behinderte in der Gesellschaft und in den modernen Kriegen zu schärfen.
Mit Weißrussland steht eine der beiden wichtigsten nichtrussischen Sowjetrepubliken und Nachfolgestaaten im Mittelpunkt des Geschehens. Weißrussland gehört weltweit zu den am wenigsten bekannten Regionen der ehemaligen UdSSR, obwohl es im Krieg am weitgehendsten verwüstet wurde. Auch das war ein maßgeblicher Grund dafür, gerade dieses Land besonders intensiv zu erforschen. Pastor Herbert Wohlhüter, der jahrzehntelang das Rehabilitationswerk für Behinderte in Bethel mit leitete und sich für die Arbeit mit Behinderten in Weißrußland persönlich langfristig engagiert hat, gab einen wesentlichen Anstoß dazu.