In der fulminanten über 1000seitigen Untersuchung und Habilitationsschrift von Rainer Möhler zur Geschichte der Reichsuniversität Straßburg gibt es einen Abschnitt von knapp zwei Seiten, der sich mit der Geschichte des Hochschulinstituts für Leibesübungen (HIfL, Legende der Abkürzungen siehe Textende) an der RUS auseinandersetzt.[1] Er enthält wichtige Quellen zu bisher wenig beleuchteten Fragen der Sportgeschichte der NS-Zeit. Zum einen, was die Geschichte des Instituts selbst, zum anderen auch, was die Person des Institutsleiters Prof. Dr. Albert Hirn und seinen Beitrag zur Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit (vor Straßburg und Heidelberg in Berlin und nach 1944 Tübingen) angeht. Hirn ist, ohne in dieser Arbeit bereits ein begründetes und endgültiges Urteil abgeben zu können, bisher in bemerkenswerter Weise totgeschwiegen worden. Das betrifft die Geschichte der Sportwissenschaft ebenso wie die Geschichte des Deutschen Hockeybunds (anders dagegen seine Wertschätzung im Deutschen Ruderverband nach 1945 vgl. Anmerkung A 13). Eine spätere Arbeit wird das detaillierter betrachten: Vom Beginn seiner Berliner Tätigkeit 1921 an der Preußischen Landesturnschule in Berlin-Spandau, die Umwidmung dieser Ausbildungsstätte, Aufbau und Direktorentätigkeit an zwei Berliner Instituten für Leibesübungen, seine Tätigkeit unter Carl Krümmel in Berlin, Heidelberg (Hausmann) und Tübingen, seine Rolle im Deutschen Hockeysport von 1909 bis 1936, in der deutschen (1939) und in der schwedischen Gymnastik (nach 1946), im deutschen (vor 1945) und schwedischen Rudersport (bes. 1948). Seine wissenschaftlichen Aufsätze und Monographien werden ebenso unter sprachtheoretischen und ideologiekritischen Aspekten untersuchen sein, wie seine Beiträge zur Geschichte des Sports und dem Paradigmenwechsel in der Sportdidaktik, der unter dem Spielgedanken von der System-Leibesübung hin zum heutigen spielgemäßen Konzept führte.
Prof. Dr. Albert Hirn (1888-1966)
Ein Weg zum Direktor des Hochschul-Instituts für Leibesübungen an der Reichsuniversität in Straßburg und seine bisherige Rezeption nach 1945
Meine Beschäftigung mit Albert Hirn geht zurück auf zwei Vorträge: Hessischer Landessportbund in Frankfurt (2016) zum Olympischen Hockeyturnier von 1936 in Berlin, Vortrag über Albert Hirn anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Geschichte der Sportwissenschaft in Erfurt (2017). Über die Rolle Albert Hirns an der RUS kann in der vorgelegten Arbeit aufgrund der Quellenlage erst wenig ausgesagt werden. Viele Gedanken haben lediglich heuristischen Wert: ein Geflecht zu rekonstruieren, innerhalb dessen Albert Hirn in Straßburg tätig war. Das betrifft in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der Straßburger Sportmedizin und Personen anderer medizinischen Institute, die mit dem HIfL kooperiert haben. Die Hochschulinstitute für Leibesübungen an deutschen Universitäten besaßen aufgrund der Hochschulordnung von 1934 des zuständigen Ministerialdirektors im Reichserziehungsministerium (REM) und Leiter des Amtes K 4 Dr. Carl Krümmel an den Universitäten eine besondere Stellung. Sie waren nicht den Universitäten inkorporiert, sondern unterstanden direkt dem REM. Aufgrund von Hirns Affinität zum Hockeysport werden auch zwei Ereignisse während Hirns Straßburger Zeit ausführlicher kommentiert, an denen indische Kriegsgefangene (Angehörige englischer Militäreinheiten) und Mitglieder der Indischen Legion (Anhänger des Nationalistenführers und Widersacher Ghandis Subash Chandra Bose) am Atlantikwall beteiligt sind. Stationen seines Weges nach Straßburg waren für Hirn Sport-Dachverbände. Ich beschränke mich dabei auf Aspekte der Geschichte des Deutschen Hockeysports in der NS-Zeit, da für die Geschichte des deutschen Ruder- und Turnsports bereits einschlägige Arbeiten vorliegen.[2] Albert Hirn ist durch seine beruflichen Ämter und den Eintritt in die NSDAP und die SA im Sommer 1933 in das NS-Regime verstrickt. Das hat bei ihm zur Internierung und zu einem Spruchkammerverfahren geführt. Zusätzlich wurde er zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt, da ihm vorgeworfen wurde, während der Internierungszeit verbotenerweise einen Brief an seine bereits in Schweden lebende Ehefrau geschmuggelt zu haben (Gefangenenakte LASH Abt. 357.1 Nr. 4424). Eine erste Skizze zu diesem Problemfeld einer Entnazifizierung Albert Hirns wird die Arbeit abschließen.
Die Quellen sind sehr verstreut. Auch die Archivgeschichte dieser noch vorhandenen Quellen ist sehr diffus. Ich sehe Gründe in der 1944 erfolgten “Evakuierung” der Reichs-Universität an den “Brückenkopf” (der Universität) Tübingen und in der späteren Rücksendung ehemals in Deutschland vorhandener Akten an Frankreich zurück.[3]
Als Quellen existieren ein Spruchkammerverfahren von Albert Hirn (LASH Abt. 460 Nr. 116), eine Gefangenenakte (LASH Abt. 357.1 Nr. 4424), beide in Flensburg, ein Gutachten des Amtes Rosenberg (Beauftragte des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP - Sachakte Hirn, Dr. Alfred (121 Bl.) Signatur BArch NS 15/211, Bandnummer 21, Titel Hi, Ort: Berlin-Lichterfeld) im Umfeld der Ernennung Hirns zum Extraordinarius. Als primäre Quelle, die noch nicht gehoben ist, ein Bestand aus dem Reichsfinanzministerium: Haushalte diverser Hochschulinstitute für Leibesübungen, unter denen sich das HIfL an der RUS befindet (Signatur BArch R2/12563). Ein privater Briefwechsel zwischen Albert Hirn und Carl Diem ab 1945 ist im CuLD-Archiv der Sporthochschule Köln archiviert. Als weitere, sekundäre Quellen jüngeren Datums existieren Arbeiten aus Deutschland zur Erforschung des Sports im Nationalsozialismus (exemplarisch Jürgen Court, Katrin Bosch) und breit verstreute Einzeluntersuchungen, u.a. auch zur Medizin- und Sportmedizin-Geschichte im III. Reich (Uhlmann, Ristau, H-J. Lang), medizinhistorische Arbeiten aus Frankreich (u.a. Wechsler, Toledano).