"Der Klassenkampf, der einem Historiker, der an Marx geschult ist, immer vor Augen steht, ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellen gibt. Trotzdem sind diese letztern im Klassenkampf anders zugegen denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück."
– Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940)
Durch die beiden Türen des großen Hörsaales der Göttinger Universität bewegen sich, mal tröpfelnd mal strömend, Besucher_Innen des 35. Kunsthistorikertages, um der Keynote von Ivan Gaskell und dem anschließenden von Julia Voss moderierten Podium beizuwohnen, auf dem vier weitere Gäste aus der universitären und musealen Kunstgeschichte diskutieren werden (Inés de Castro, Martin Eberle, Hans-Jörg Rheinberger, Margarethe Vöhringer).
Eine tiefe Stimme und die Klänge einer akustischen Gitarre fließen durch den Saal. Die Worte … to be out of place … heben sich sanft aus dem Stimmengewirr der Hereinkommenden hervor. Über der Bühne, auf der die Stühle für die Podiumsdikussion und einige Menschen stehen, zeigt die Projektion eines Musikvideos einen Cowboy mit weißem Hut und in Jeansjacke. Mit seiner Band hat er die Sehnsucht des einsamen Mannes im Wilden Westen in einen Song gegossen und durch eine Studioaufnahme in alle Welt übertragbar gemacht. … I know somebody’s listening … Der Cowboy trägt eine Brille, sein Kollege am Bass ein rotes Hemd, auf dem die Bügelfalten zu erkennen sind. Um die sechs Bandmitglieder sind dunkle Laubbäume platziert, das Ensemble befindet sich in einer leicht schummrigen, lavendelfarbenen Atmosphäre, die an abendliches Licht erinnert. Der Sänger könnte ein "echter" Cowboy sein, der seine Sehnsucht nach Geborgenheit in den langen Stunden der Einsamkeit vertont hat. Allerdings ist es wahrscheinlicher, dass er ein Berufsmusiker ist, der das Aussehen, die Bildsprache und die Klänge des Cowboys, Spaß habend oder Erfolgschancen kalkulierend, inszeniert. Bei vielen Eintretenden ruft die Musik, die unerwartet in ihr Bewusstsein fließt, ein Lächeln hervor. Die gewinkten Grüße und Erkundungen nach dem aktuellen Forschungsprojekt und der beruflichen Lage vermischen sich mit den wehmütigen Klängen. Ein Mann, der eine hellbraune Raulederjacke mit einem Jeanshemd darunter trägt, geht im Takt wippend zum Rednerpult: Ivan Gaskell, der Keynote-Speaker. Der Song ist zu Ende. Die letzten noch Stehenden finden in den Reihen des Hörsaales einen Platz. Ruhe kehrt ein.
Gaskell öffnet den Vortrag "Works of Art and Mere Real Things – again" mit der Frage, welche Fähigkeiten nötig sind, um „mere real things“ zu erforschen und welche Objekte überhaupt in die Kategorie der "mere real things" fallen. Dabei unterscheidet er zwischen Objekten der Kategorie A, "mere real things", zu der Pilze und Asteroiden zählten, die ihre Identität beibehalten, und Kategorie B, "offener Art", die ihre Identität nicht notwendigerweise beibehalten, wozu Kunstwerke gehörten. Die Ausbildung von Kunsthistoriker_Innen sei darauf ausgerichtet, ästhetische Eigenschaften zu erkennen und benennen, allerdings würden Kunsthistoriker_Innen neben dem Kunstwert auch andere Eigenschaften verhandeln. Dieser Einteilung folgend, versteht Gaskell Kunstgeschichte als eine "bewertende" (evaluative) Disziplin. Für die Erforschung nicht-ästhetischer Eigenschaften, beispielsweise von Materialiät, sei interdisziplinäre Kooperation wichtig, wofür Gaskell im Laufe der Rede wiederholt plädiert. Denn wenn Kunsthistoriker_Innen "mere real things" verstehen wollten, die womöglich keine besonderen ästhetischen Qualitäten haben, seien sie in ihrem Nachdenken und -forschen auf die Philosophie angewiesen. Das illustriert der Redner mit dem einfachen Beispiel, dass die Kategorie des Asteroiden stabil sei und der Asteroid diese Kategorie nicht verlässt. Dahingegen lägen solche Eigenschaften, die ein Objekt zu einem Kunstwerk machten, nicht im Objekt selbst, weswegen die Kunstwerke Objekte der Kategorie B seien, die ihre Identität als Kunstwerkt verlieren und wieder zu einem "mere real thing" werden könnten. Um diese Eigenschaften zu verstehen, sei es – mit Nelson Goodmann gesprochen – fruchtbar zu fragen, wann etwas Kunst ist, während die Frage "Was ist Kunst?" schlecht gestellt sei, weil sie nach essentiellen Eigenschaften frage, wo es gar keine gebe.
Diese zentrale Überlegung über die Bedingungen der Kunstwerdung eines Objektes erläutert Gaskell in der zweiten Hälfte des Vortrages anhand einiger Werke. Der Redner betont, dass Künstler (genannt wurden Robert Rauschenberg und Marcel Duchamp), die bestimmten Objekten den Kunststatus zuschreiben, nur dann auch Kunstwerke hervorbringen, wenn ihre Zuschreibungen von einer tragfähigen Gemeinschaft (viable community) positiv aufgenommen würden. Die Wichtigkeit der tragfähigen Gemeinschaft betont er mehrfach, allerdings ohne die Wirkungsweise der Prozesse, durch die die Gemeinschaft etwas als Kunstwerk akzeptiert, genauer zu beschreiben. Kunsthistoriker_Innen spricht Gaskell in diesem Prozess, in dem Dinge zu Kunstwerken und womöglich wieder zu Dingen würden, keine "besondere" Rolle zu. So bleibt es offen, wie Kunsthistoriker_Innen als Teil dieser Gemeinschaft an dem Prozess der Zuschreibung und Akzeptanz des Kunstwertes teilhaben. In der anschließenden Diskussion merkte Gaskell an, dass Kunsthistoriker_Innen vorschlagen könnten, bestimmte Dinge als Kunstwerke zu betrachten. Ob der Vorschlag aber akzeptiert würde, hinge von der tragfähigen Gemeinschaft ab. Aufgrund der nicht-essentiellen Merkmale die ein Objekt zu einem Kunstwerk machen, solle Kunstgeschichte sich nicht als hegemoniale Disziplin verstehen, sondern mit Expert_Innen aus anderen Disziplinen kollaborieren, die sich mit den wesentlichen Eigenschaften des untersuchten Objektes auskennen. Insbesondere gelte dies, wenn Kunsthistoriker_Innen sich zu den Dingen selbst (mere real things) wendeten. Gaskell griff mit seinen Überlegungen dazu, was ein Kunstwerk von einem Ding unterscheide, eine Kernfragen auf, die durch das Motto "Zu den Dingen!" des Kunsthistorikertages in den zahlreichen Vorträgen und Diskussionen der Foren und Sektionen immer wieder aufkam.
In der an die Keynote anschließenden Podiumsdiskussion wurde anfänglich zwischen Deutsch und Englisch gewechselt. Die Moderatorin Julia Voss leitete die Diskussion mit der Frage ein, wie die Muschel, die auf dem Kongressplakat abgebildet ist, das Thema "Zu den Dingen!" erhelle. So erfuhr das Publikum durch Margarete Vöhringers Erklärung, dass es sich bei der Muschel um ein "natürliches Ding" handele, das aus bisher unerklärten Gründen in die Göttinger Universität-Sammlung aufgenommen wurde. Von Martin Eberle wurde kritisch angemerkt, dass die Kategorie des "Dings" in der außeruniversitären Museumspraxis nicht vorkomme. Dort gäbe es nur "Objekte", die gelagert, erforscht und je nach thematischem Kontext kunst- oder kulturhistorisch ausgestellt werden würden. So zeigte sich in dem Vortrag und der anschließenden Diskussion, dass die Unterscheidung zwischen Dingen und Kunstwerken von Künstler_Innen, Kunsthistoriker_Innen und Kurator_Innen im Zusammenspiel mit der tragfähigen Gemeinschaft praktisch realisiert wird und dass philosophische Reflexion dazu beiträgt, die Handlungen zu verstehen, mit denen Objekten Kunstwert zugeschrieben wird. Die Diskussion war geprägt von der bruchstückhaften Übertragung der ins Mikrofon gesprochenen Redebeiträge. Die lückenhafte Verstärkung der Stimmen und das Mäandern zwischen Deutsch und Englisch wurden so ungeplant zu den Dingen, die die Podiumsdiskussion prägten. Dieses Aufblitzen der materiellen, technischen Basis wurde nicht benannt und produktiv gemacht, ebenso wie das erkenntnistheoretische Potential, das in der semantischen Rahmung des Cowboy-Motivs lag, nicht ausgeschöpft wurde. Möglicherweise wollte Gaskell das Publikum mit dem Cowboy-Motiv auf etwas aufmerksam machen, aber eben so gut ist es möglich, dass die Songs der wahrscheinlich inszenierten Cowboys auf nichts außerhalb von ihnen Liegendes verwiesen.
Aus dem Publikum wurde die Frage gestellt, ob die Stabilität der Kategorie des Asteroiden denn nicht ebenso wie die des Kunstwerkes von einer tragfähigen Gemeinschaft abhinge und durch Vorstellungen ins Wanken gebracht würde, die nicht der westlichen, wissenschaftlichen entsprächen. Gaskell bejahte diese Frage und betonte ihre Wichtigkeit. Und so zeigte sich, dass sowohl die Wahrnehmung eines Witzes über das Metermaß von Duchamp (3 Standard Stoppages, 1914) als Kunstwerk wie auch die Wahrnehmung eines Asteroiden als Asteroid von der Stabilität eines bedeutungsproduzierenden Beziehungsgeflechtes abhängt. Bei genauerem Hinsehen erscheint das Beziehungsgeflecht in beiden Fällen als permanente Bewegung und die scheinbare Stabilität der von ihm produzierten Realität erzittert in ihrer Situiertheit.
Ich danke dem Nachwuchsforum des 35. Deutschen Kunsthistorikertages und der Gerda-Henkel Stiftung vielmals für den Erhalt eines Reisestipendiums, das es mir ermöglicht hat, an dem umfangreichen Kongress-Programm teilzunehmen. Da zwei StipendiatInnen bereits über das #arthistocamp berichtet und einen die vielen Programmpunkte zusammenfassenden Eindruck verfasst haben, ist mein Bericht auf das Podium und einiger zentraler Ideen des Keynote-Speakers konzentriert, um inhaltliche und methodische Fragestellungen darzulegen, die in vielen Foren und Sektionen in unterschiedlicher Form diskutiert wurden.