„Europa“ ist ein problematischer Begriff: Dieselbe Geschichte der Nutzung dieses Wortes zeigt eine polyseme Stratigrafie. Der Name des Kontinents bezieht sich auf die mythologische Figur der phönizischen Prinzessin, die von Zeus nach Kreta entführt wurde. Europa ist also ein geographischer Begriff, der ursprünglich im Mittelmeerraum sein Zentrum hatte. Schon in Altertum schließt dieses Wort jedoch auf neue Gebiete, die fern von dem mare nostrum liegen.
Neue Strategien und Metaphern vom "Semantic Web" in der Definition der europäischen kulturellen Identität
Essay zum Villa Vigoni-Workshop "Europäische kulturelle Identität"
Durch die Jahrzehnte hat die historische Synergie der europäischen Staaten, die zwischen Kooperation und Feindlichkeit liegt, ein vielfältiges Konzept gestaltet, das nur teilweise von der Europäischen Union verkörpert wird. Aber, wie ein Mensch mit reifem Verstand, stellt sich nun die EU die voraussehbare und naive Frage: Was ist Europa? Was ist ihre Identität? Auch wenn eine Introspektion vielleicht nur zu wenigen und nicht exhaustiven Antworten führen kann, ist solch eine Untersuchung für diesen Prozess unverzichtbar: Diese endlose und dialektische Analyse eigener Identität basiert nämlich auf der Basis des europäischen Selbstbewusstseins.
Meiner Meinung nach zeigt dieselbe Geschichte der Gestaltung des Konzepts „Europa“, wie die Antwort zu diesen existentialistischen Fragen nicht eindeutig sein kann. Wie Luigi Pirandello, der einen der Meilensteine des modernistischen Romans „Einer, keiner, hunderttausend“ schrieb, bemerkte, wechselt die Perzeption einer Identität endlos. Die letzte Spannung der Ukraine und Russland ist ein tragisches Beispiel dabei. Russland, das zwischen Europa und Asien liegt, ist zweifellos ein politisches Wesen, das nicht europäisch beschrieben werden kann. Aber können wir denn wirklich Dostojewski, Tschaikowski, Tolstoi und die ganze russische Kultur aus dem europäischen Erbe ausschließen?
Es ist deshalb notwendig eine Unterscheidung zu machen. Zumindest kann man drei verschiedene Begriffe von Europa feststellen: der „geographische Begriff“, die politische Entität und das gemeinsame Kulturgut. Diese letzte Bedeutung ist vielleicht die problematischste. Eine der überzeugendsten Definitionen von „kulturelle Identität“ wurde von Stuart Hall[1] vorgeschlagen:
Cultural identity is a matter of 'becoming' as well as of 'being'. It belongs to the future as much as to the past. It is not something which already exists, transcending place, time, history, and culture. Cultural identities come from somewhere, have histories. But, like everything which is historical, they undergo constant transformation. Far from being eternally fixed in some essentialised past, they are subject to the continuous 'play' of history, culture, and power. Far from being grounded in a mere 'recovery' of the past, which is waiting to be found, and which, when found, will secure our sense of ourselves into eternity, identities are the names we give to the different ways we are positioned by, and position ourselves within, the narratives of the past.
Deshalb ist unser kulturelles Erbe nicht a priori und monolithisch, sondern wird immer neu diskutiert. Besonders in der Ära der Globalisierung und der kulturellen Dominanz der USA ist es schwierig eine reine Identität zu isolieren. Der unaufhaltsame Austausch zwischen Europa und die ganze Welt ist vielleicht die riesigste Problematik in der Analyse unserer kulturellen Identität. Sollte man sich dieser potenziellen Aporie ergeben? Auch wenn man die Grenzen dieser Untersuchung über Europa nicht klar zeichnen kann, könnte man mithilfe der Analogie und der Metaphern darüber nachdenken. Darüber hinaus könnte es auch nicht sinnlos sein, unseren ganzen Untersuchungsansatz zu wechseln und stattdessen durch eine Induktion eine erste Idee von Identität aus den einzelnen Kulturgütern unseres Erbes zu bauen.
Als ein Student der Digital Humanities vertraue ich auf die Möglichkeiten des World Wide Webs in der Schaffung von erfolgreichen „narratives of the past“. Auch die EU hat sofort die vom Semantic Web angebotenen Möglichkeiten geschätzt und bahnbrechende Projekte in dieser Richtung unterstützt. Zweifellos ist das berühmteste Beispiel die Europeana,[2] die ihre Mission 2008 begann. Das Projekt betrifft verschiedene kulturelle aggregators von ganz Europa: Die kulturellen Objekte sind nämlich auf ein nationales Niveau katalogisiert. Dieser Prozess basiert auf den neuen Instrumenten des WWW 3.0, wie Linked Open Data, eine Strategie von Datenmanagement, die besonders die Verbindungen zwischen jedem Datum zur Geltung kommen lässt.
Die Rolle der Europeana ist demnach, eine Harmonisierung zwischen europäischen databases zu ermöglichen. Dieses Ziel wird durch ein ad hoc entwickeltes data model erreicht: das „Europeana Data Model“ (EDM), „an open, cross-domain Semantic Web-based framework that can accommodate particular community standards“.[3] Dank dieses Projekts kann man europäisches Kulturgut untersuchen und beispielsweise mit einer SPARQL Query ausfragen.
Die “Knowledge Management”-Strategie von Europeana macht nicht nur das europäische Kulturgut für jeden erreichbar, sondern kann auch als methodologisches Modell für die Erreichung eines europäischen kulturellen Selbstbewusstseins fungieren. Wie auch Hall schon bemerkte, sollte auch unsere kulturelle Identität nicht als eine starre Einheit betrachtet werden. Im Gegenteil, Europeana bietet interessante Metaphern an. Dasselbe Europa ist ein aggregator von verschiedenen Traditionen und Kulturen. Unsere Identität kann demzufolge als ein Netzwerk dargestellt werden, dessen Wesen in den Verbindungen zwischen verschiedenen Entitäten versteckt ist.
Solch eine Konfiguration ist vielleicht die einzige mögliche Mediation zwischen dem unverzichtbaren Bedürfnis nach einer kollektiven kulturellen Identität und dem postmodernen Paradigma der Fluidität. Aus dieser Perspektive ermöglichen die Metaphern und die Ansätze des Semantic Webs einen detaillierten Entwurf von unserer Identität. Das Kulturgut Europas ist nicht per se definiert, sondern steht in dem Zusammenhang zwischen den einzelnen Staaten sowie den anderen Kontinenten. Als EuropäerInnen sollten wir in der Lage sein, dieses verworrene Netzwerk zu analysieren und zu verstehen: Nur bei der endlosen Erörterung unseres Erbes können wir endlich eine europäische Identität bauen.